Einen Spatzen aufziehen

Anfang Juni 2021 machte es vor dem offenen Fenster im Untergeschoss „plop“. Ich war gerade im Zoom-Meeting und musste das Ergründen der Ursache unseren Katzen überlassen. Vor dem Fenster befindet sich unser Catio, eine Art Katzenkäfig, der mit Katzennetz überspannt ist. Irgendetwas war wohl vom Dach aufs Netz gefallen, durchgerutscht, und auf den Steinplatten vor dem Fenster liegen geblieben.

Nach dem Meeting sah ich die Katzen gespannt auf einen Alien starren. Ich dachte im ersten Moment an einen Frosch, aber in der Nähe ist kein Gewässer. Schnell schnappte ich ein Glas und stülpte es über das Etwas, was da zappelte, schob ein Papier darunter und holte das Ding rein. Es war ein Vogel! Komplett nackt, also erst ein paar Tage alt, und offenbar aus dem Nest oben an der Dachrinne gefallen (oder geschubst worden).

Ich legte den Vogel in einen Pappkarton mit getrocknetem Gras und stellte ihn draußen unter den Rhododendronbusch, in der Hoffnung, die Vogeleltern würden ihn finden. Aber da tat sich nichts. Als es Abend und allmählich kühl wurde, holte ich ihn rein. Wegen der Katzen schloss ich den Karton und stellte ihn oben ins Regal. Morgen würde ich das Vögelchen dann wohl beerdigen müssen. Ein nackter Vogel ohne Federn ist außerhalb des Nests nicht lebensfähig. Dachte ich jedenfalls.

Doch am nächsten Morgen piepte es mächtig im Regal! Das kleine Ding war lebendig und sehr hungrig. Weil wir keine Idee hatten, was wir machen sollten, fuhren wir auf gut Glück in die Tierklinik der FU Berlin. Dort gaben sie ihm eine Infusion (wohl nur Wasser und ein Antibiotikum) und wünschten uns viel Glück bei der Aufzucht. Die Infusion hat wahrscheinlich dafür gesorgt, dass der Vogel überlebte, weil er seit dem Auffinden mindestens 18 Stunden nichts zu sich genommen hatte.

Beim nächsten Vogel sparen wir uns den Weg zur Klinik und machen es gleich richtig, und zwar so:

  • Handtuch in kleinen Pappkarton legen. Darunter am besten ein Kühlpad, natürlich ordentlich gewärmt. Die Temperatur im Handtuch kann gerne 40 Grad sein. Vogel ins Handtuch, locker zudecken.
  • Nutribird Handmix oder ähnliches besorgen. (Davon gab uns die Tierklinik netterweise ein Gläschen mit. Ansonsten gibt’s das beim Tierbedarf.) Wir bestellten den Orlux Handmix. Davon rührt man einen Teelöffel voll mit ein paar Tropfen Wasser an, bis es breiig wird. Die kleine Schale mit dem „Babybrei“ reichte jeweils für einen ganzen Tag.
  • Zum Füttern braucht man eine Spritze, 10 ml. Wir haben ein Zehnerpack bestellt und letztlich 3 Stück verwendet. Den Babybrei aufziehen, in den Schnabel stecken, abdrücken. Das Vögelchen versteht innerhalb kürzester Zeit, was Sache ist, und sperrt (den Schnabel auf). Wenn es anfangs nicht will, beherzt mit den Fingern an den Mundwinkeln drücken. Funktioniert genau wie bei Katzen, der Schnabel geht auf. Die Spritze ruhig ein Stück weit in den Schnabel stecken (bei den 10 ml-Spritzen etwa bis zur Markierung „2“.) Ich habe anfangs jeweils 2-3 ml reingedrückt, abgewartet, bis der Vogel geschluckt hat (recht bald schon piept er dann wieder vernehmlich), dann nochmals 2-3 ml, und so weiter, und pro Fütterung letztlich 6-10 ml, später manchmal bis zu 15 ml.
    Zur Anzahl der und Abstand zwischen den Fütterungen liest man so allerlei. Bei uns pegelte sich die Fütterzeit letztlich auf alle 2-3 Stunden ein, 6-8 Mal am Tag insgesamt. Unser Vogel stand neben dem Bett, Handtuch drüber, damit er nicht mit den ersten Sonnenstrahlen anfängt, Radau zu machen. Ich habe ihn allmählich zum Spätaufsteher erzogen. Gegen 9 Uhr ging’s mit dem Füttern los, gegen 21 Uhr war die letzte Fütterung.
    Kein Wasser geben! Daran kann der Vogel ersticken. Daher auch den Babybrei nicht zu dünn anrühren. Mit dem Brei erhält der junge Vogel genug Wasser.
    Falls der Vogel überhaupt nicht essen will, ist er wahrscheinlich sehr krank bzw. so stark verletzt, dass er sterben wird. Unser Vogel hat 12 Meter Fall aufs Katzennetz und dann noch mal 80 cm auf den Steinboden unbeschadet überstanden. Glücklicherweise haben ihn die Katzen nicht berührt. Insbesondere Katzenmäuler sind Infektionsherde sondergleichen. Das überlebt ein nackter Vogel praktisch nie.
  • Nach dem Füttern springt die Verdauung an und das Vögelchen setzt Kot ab. Der geht aufs Handtuch oder in meinem Fall auf die Hand, weil ich den Kleinen zum Füttern immer in den Hand nahm. Ist nichts Schlimmes. Am besten nimmt man zwei Handtücher im Wechsel. Das andere wurde draußen ausgeschüttelt und erst nach Tagen gewaschen. Im Nest ist auch reichlich Kot drin, das tut den Kleinen nichts.
  • Außer Babybrei braucht das Vögelchen mindestens zwei Wochen lang nichts. Kein Wasser, kein extra Protein, keine Vitamine. Es ist alles im Handmix enthalten. Der Schnabel ist anfangs auch noch viel zu weich, um feste Nahrung zu zermahlen.
  • Sobald der Vogel flügge wird (bei Spatzen 16 Tage nach dem Schlüpfen aus dem Ei) füttert man Mehlwürmer zu. Gibt’s ebenfalls im Tierbedarf oder in der Drogerie. Die enthalten sehr viel Protein, sind aber auch recht salzig. Daher stellt man eine Schale mit Wasser hin.
  • Wir haben einen kleinen Käfig gekauft, wegen der Katzen. Solange der Vogel noch nicht flügge war, funktionierte auch das Abstellen in einem Zimmer, wo die Katzen nicht rein kamen. Aber Käfig ist sicherer, sonst öffnet man eines Tages die Tür und der Vogel fliegt direkt auf die Katzen zu.
  • Vorsicht mit Fenstern und Spiegeln! Vögel lernen zwar schnell, aber bei den ersten Flugübungen fliegen sie vielleicht ungebremst gegen eine Fensterscheibe. Auch deshalb ist ein Käfig eine sichere Lösung.
    Die ersten Flugübungen fanden in einem Zimmer ab, wo ich die Rollläden heruntergefahren hatte. Die Übungen fanden also bei Kunstlicht statt. Vögel steuern dann erstens nicht direkt auf die Fenster zu und zweitens fliegen sie vorsichtiger, weil sie nur bei Tageslicht richtig gut sehen können.
  • Mehlwürmer sind anfangs schwer zu essen, weil auch nach zwei Wochen der Schnabel noch so weich ist, dass selbst die spröden getrockneten Würmer kaum zerrieben werden können. Ich habe sie daher erst mal einzeln gereicht. Körnerfutter geht erst mal gar nicht, weil selbst schalenloses vor dem Schlucken gut zerkleinert werden muss. Ausreichend zerkleinern funktioniert so ganz allmählich ab dem Alter von 3-4 Wochen.
  • Damit der Vogel in freier Wildbahn überleben kann, muss er selbständig picken und trinken können. Das lernen sie aber ganz von selbst, wenn sie gesund sind.
  • Das legt letztlich auch die Zeit fest, die man für die Aufzucht braucht: ziemlich genau 1 Monat. Flügge sind sie schon nach 16 Tagen, aber 2-3 Wochen lang werden sie noch von den Eltern zugefüttert. Und weil ich behindert bin und nicht fliegen kann, muss der Vogel wohl oder übel noch weitere zwei Wochen bei mir bleiben, damit ich zufüttern kann. Bis zum Schluss gab’s immer noch, mit abnehmender Frequenz, Babybrei.

Unser Vogel war ein Spatz, genauer gesagt eine Spätzin, wie sich später herausstellte. Was ich in diesem Artikel zur Aufzucht schreibe, gilt aber für die meisten anderen Vögel. Faszinierend fand ich, dass unsere letzten gemeinsamen Vorfahren vor 370 Millionen Jahren lebten und wir dennoch überhaupt keine Probleme haben zu kommunizieren bzw. unsere Bedürfnisse zu verstehen. Vögel, insbesondere Spatzenartige (Passeriformes, 50% aller Vögel) und Rabenvögel, sind ziemlich intelligent und haben darüber hinaus schon einiges an Verhaltensrepertoir „eingebaut“, wodurch sie schnell selbständig und überlebensfähig werden. Die Neuronen im Gehirn sind wesentlich dichter gepackt als bei Säugetieren, und das Verhältnis Gehirn zu Körpermasse ist höher als bei den meisten anderen Tieren. Beides ist nötig, weil man bei hoher Fluggeschwindigkeit in 3D-Umgebung sowohl Schnelligkeit als auch Intelligenz braucht.

In den ersten zwei Wochen sind die Beine so schwach, dass der Vogel sich weder aufrichten noch ernsthaft fortbewegen kann. Daher konnte ich mich problemlos mit ihm aufs Sofa zu den Katzen setzen. Ich habe den Vogel täglich mehrfach in die Hand genommen und leicht durchgewalkt, weil ihm sicher diese Art der Berührung aus dem Nest fehlte.

Nach einer Woche bildeten sich ernsthaft erste Federn. Nach zwei Wochen waren schon fast überall Flaum oder Federn.

Wir hatte dem Vogel für den Käfig ein kleines Nest gestrickt, ausgelegt mit einer Stoffserviette, darüber stilecht ein Staubtuch. Das Staubtuch ließ ich immer mehr weg, je höher sich der Vogel aufrichtete. An dem Lidstrich hinten überm Auge konnte ich mittlerweile erkennen, dass es ein weiblicher Spatz war. Unsere Spätzin heißt Chester und hört auf ihren Namen.

Nach zwei Wochen fing Chester an, im Nest Wind zu machen. Manchmal schwebte sie hoch wie von einem Ventilator angetrieben. Am Ende des Tages konnte sie dann schon im Käfig fliegen. Die Flugstrecken waren natürlich sehr kurz, daher sah sie manchmal aus wie ein kleiner Affe, der von einer Seite zur anderen springt.

Jetzt hängte ich den Käfig nach draußen, damit Chester in Kontakt mit den anderen Spatzen kam. (Der akustische Kontakt durchs offene Fenster war vorher schon da, weil aus dem Nest oben reichlich Piepen kam und Chester mächtig zurück piepte. Im Prinzip hatten wir in der Wohnung vier Wochen Dauerpiepen.) Bei den nachmittäglichen Spaziergängen mit unserem Maine Coon war der Käfig natürlich jetzt ein Highlight.

Dann machte ich den Fehler, zu versuchen, Chester draußen zu füttern. Ich hatte sie wie üblich aus dem Käfig in die Hand genommen, und innerhalb einer Sekunde war sie oben im nächsten Baum. Und piepte den ganzen Nachmittag lang und bis 22 Uhr, als alle anderen Spatzen schon schliefen, damit ich hinterher käme, um sie zu füttern. Das ist der Nachteil der eingebauten Verhaltensfestlegung: Sie konnte einfach nicht verstehen, warum ich nicht hinter ihr her flog. Das war ein trauriger Abend, weil ich wusste, dass Chester noch nicht selbständig genug war, um draußen zu überleben. Aber alle Versuche, sie zu mir zu locken, waren vergeblich gewesen, und so ging ich schlafen.

Am nächsten Vormittag ging ich in den Hintergarten, und da piepte es aus der Hecke. Man könnte ja denken, alle Spatzen klingen gleich, doch Chester erkenne ich bis heute sofort an ihrer Stimme. Es dauerte aber fast zehn Minuten, bis ich sie entdeckte. Sie saß mitten in der Hecke auf dem Boden und sah recht jämmerlich aus. Immerhin hatte sie sich aber den besten Platz gesucht, um vor Krähen und Eichelhähern geschützt zu sein. Ich nahm sie in die Hand, redete ein ernstes Wort mit ihr, und setzte sie in den Käfig. Sie war sichtbar erleichtert, jetzt doch weiterleben zu können. Und ich war selten so froh, jemanden wiedergefunden zu haben.

Ab jetzt setzte ich sie tagsüber im Käfig in den Halbschatten des Rhododendronstrauchs. Oben legte ich abgeschnittenes Efeu drauf. Es war heiß. Einen halben Meter entfernt stellte ich für die Spatzen im Vordergarten (also die aus Chesters Nest) eine Schale mit Körnern und eine mit Wasser auf. Die Spatzen kamen hin und schauten auch neugierig zu Chester.

Zum Füttern holte ich sie rein. Nach der Abendfütterung kam sie ins Schlafzimmer. So ging das die nächsten zwei Wochen weiter.

Mittlerweile hatte sie ein volles Federkleid. Der Schnabel wurde allmählich immer fester und es dauerte nur ein paar Sekunden, einen Mehlwurm zu zerreißen und zu zermahlen. Körner waren immer noch mühsam.

Ich setzte sie so viel wie möglich im Käfig nach draußen, aber es wurde immer klarer, dass sie allmählich mehr Freiraum brauchte. Sie flog manchmal über Stunden ohne Unterbrechung von einer Käfigseite zur anderen. Also musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, sie endgültig fliegen zu lassen.

Beim Füttern ließ ich sie jetzt auch im Zimmer fliegen, aus dem ich die Katzen ausgesperrt hatte. Das Fenster war kein Problem mehr, das hatte sie verstanden. Am liebsten landete sie auf meinem Kopf oder meiner Nase. Auch ließ sie sich immer noch gern auf die Hand setzen und streicheln. Sie wurde dann ganz flach und gab ein herzallerliebsten Fiepen von sich. Es hat nur noch gefehlt, dass sie anfing zu schnurren.

Jetzt hing ich den Käfig in einen Baum, baute eine zweite Stange an, außen, damit sie darauf landen könnte, falls sie noch mal in den Käfig wollte, und öffnete dann die Tür. Nach ein paar Minuten kam sie raus und flog auf und davon. Sie flog nicht mehr selbständig zum Käfig zurück, kam aber meist zu mir, wenn ich raus ging und sie rief. Auch ließ sie sich wieder in den Käfig setzen, um in Ruhe zu essen. Abends nahm ich sie dann wieder rein zum Schlafen, und morgens gab’s noch mal Babybrei, bevor ich den Käfig wieder in den Baum hängte und die Tür öffnete.

In diesen Tagen retteten wir noch einen Eichelhäher vor dem Verdursten. Das sind Rabenvögel, und ein paar Nummern größer als Spatzen. Chester wiegt ausgewachsen etwa 30 Gramm, Jay der Eichelhäher lag schon bei mindestens 100 Gramm. Den Vogel festhalten, mit der anderen Hand in die Mundwinkel drücken, und mit der dritten Hand Babybrei aus der Spritze hineinpumpen erforderte also schon zwei Menschen. Ich musste ziemlich fest drücken, damit der Schnabel aufging, und aufpassen, nicht die Finger in den Schnabel zu kriegen. Sonst hätte ich ein paar Wochen nicht mehr Geige gespielt.

Wir packten Jay in bewährter Manier in einen (größeren) Pappkarton mit Handtuch darin. Nach den ersten beiden Zwangsfütterungen sah er definitiv wieder lebensfähig aus. Am nächsten Morgen wurde er noch mal gefüttert, und dann raus auf die Wiese. Fliegen konnte er noch nicht, aber krähen klappte wieder! Und eine Minute später kam Antwort und ein beeindruckend großer Elternvogel, der ihn fütterte. Jay lief über die Wiese zum Zaun, quetschte sich durch, und saß dann beim Nachbarn, wo wohl auch das Nest ist. Dort fand ihn auch der Elternvogel. Kürzlich sah ich die beiden Flugübungen veranstalten.

Chester wollte nach einer Woche nicht mehr zum Schlafen ins Haus kommen. Jetzt wohnt sie draußen und hat Anschluss an die Spatzen-Gang im Hintergarten gefunden. Anfangs war sie noch im Vordergarten unterwegs, aber fast immer allein. Ich fing mir schon an Sorgen zu machen, weil Spatzen eigentlich nur in Gemeinschaft leben können. Aber sie sind sehr individuelle Vögel, und da dauert es eben, bis man sich miteinander bekannt macht und zum gemeinschaftlichen Geschwaderflug eingeladen wird.

Mittlerweile kenne ich Chester seit zwei Monaten. Sie kommt immer noch zu mir auf die Hand, wenn ich sie rufe — und wenn sie Zeit hat. Ich sollte allerdings meine Dose mit Mehlwürmern griffbereit haben, sonst pickt sie auf der leeren Hand herum und schaut mich vorwurfsvoll an.

Neulich kamen zwei Spatzen direkt auf mich zugeflogen. Kurz bevor sie mich erreichten, drehten sie nach oben ab und setzten sich auf den Fliederbaum. Ein Spatz versteckte sich in der Krone, der andere kam zu mir auf die Hand, Mehlwürmer futtern. Chester hat also eine Freundin gefunden, mit der sie herumfliegt. (Beide gehören zu einem Schwarm von etwa 15 Spatzen.) Chester war auf mich zugeflogen, die Freundin immer an der Seite, bis ihr kurz vor der Landung einfiel, dass andere Spatzen üblicherweise nicht auf Menschen landen. Also setzte sie ihre Freundin erst im Baum ab, um danach zu mir zu kommen. Was für freundliche Wesen!

Mal sehen, wie es weitergeht. Die anderen Spatzen aus Chesters Gang scheuen nicht mehr so sehr vor mir zurück. Ich habe eine Futtersäule mit Mehlwürmern aufgehängt, die mittlerweile gut von ihnen frequentiert wird. Im Winter kommt dann noch eine mit Körnern dazu. Ein Spatzenhotel mit 3 Nistkästen habe ich in Vorbereitung, so etwas wird auch gern zum Überwintern genutzt.

Spatzen werden bis zu 12 Jahre alt, und erinnern sich jahrelang an Menschen. Mit 1 Jahr werden sie geschlechtsreif. Vielleicht zeigt mir Chester nächsten Sommer ihre Jungen! 🙂